Toleranz ist was für Randgruppen

Conchita Wurst hat den ESC gewonnen. Da das Internet geduldig ist und Sie diesen Beitrag möglicherweise zu einem Zeitpunkt lesen, an dem die Erinnerung daran schon zu verblassen beginnt, eine kleine Hilfestellung: ESC steht im Jahr 2014 für Eurovision Song Contest und ist, oder "war", liebe Leser aus der Zukunft, ein gesamteuropäischer Sangeswettstreit auf höchster nichtpolitischer Politebene. Conchita Wurst ist ein Travestiekünstler mit Vollbart und eine dementsprechend kontroverse Medienfigur und Europa ist, nein, das würde jetzt zu weit führen, schlagen Sie das doch bitte bei Wikipedia nach. Conchita Wursts Sieg beim ESC jedenfalls wird in ganz Europa als Sieg der Toleranz gefeiert, als Sieg der Menschlichkeit und des respektvollen Umgangs miteinander, außer man ist anderer Meinung, DANN GIBT´S DRESCHE.

Machen wir uns nichts vor, Toleranz ist im Prinzip ein schnittiger Oberbegriff für eines der ältesten und zugleich simpelsten ethischen Konzepte: "Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu.". Wenn man sich, wie ich, tagtäglich im Internet rumtreibt kommt man aber nicht umhin festzustellen, dass Toleranz mittlerweile eher eine Art Profilierungskonzept als einen ethischen Grundsatz darstellt und dass für ̶m̶̶a̶̶n̶̶c̶̶h̶̶e̶ viel zu viele Beleidigungen, Pöbeleien und Shitstorms probate Mittel darstellen, ihrer Toleranz Ausdruck zu verleihen. [sic!]

Die deutsche Jury, die, zusammen mit dem Zuschauervoting, einen von zwei Bewertungsblöcken für den ESC darstellt, hat Conchita Wurst keinen Punkt gegeben. Quelle

WAS? KEINEN EINZIGEN? OBWOHL SIE EINEN SO SCHÖNEN BART HAT? HÄNGT DIE FASCHISTEN AN IHREN GEDÄRMEN AM NÄCHSTEN BAUM AUF!!!1!!elf!! 
Die deutsche Jury besteht aus weißen, privilegierten Menschen mit einem gewissen Öffentlichkeitspotential. Das bedeutet für die militanten Toleranten, dass diese Leute weder eine von der eigenen abweichende Meinung haben dürfen, noch dass sie selbst Toleranz für ihre Meinung verdient haben, denn sie gehören keiner unterdrückten Minderheit oder wenigstens einer sozial benachteiligten Randgruppe an. Und so kommt es, wie es kommen muss. Die nicht vorhandene Jurywertung für Conchita Wurst ist genauso öffentlich einsehbar wie die Höchstpunktzahl der Zuschauer und natürlich lassen es sich Mitglieder der demokratischen Anrufermehrheit nicht nehmen, ihrem Unmut darüber mit allen Netzmöglichkeiten Ausdruck zu verleihen.

Das "Vergehen" ist dabei, um dem geneigten Leser das nochmal ins Gedächtnis zu rufen, ein Lied nicht gut gefunden zu haben welches von einer Frau mit Bart gesungen wurde, obwohl es politisch korrekt gewesen wäre, es gut zu finden. Und so wird eben diese weiße, privilegierte Jury beschimpft, beleidigt und bedroht, geschützt durch die Anonymität des Netzes und mit der Dynamik, die solche Shitstorms eben mitbringen. Einige kennen das vielleicht von Festivals. Wenn der erste neben das ständig besetzte Chemieklo pinkelt, brechen schnell alle Dämme und plötzlich stehst du in einer riesigen nach Pisse stinkenden Pfütze. Ich finde, das Bild beschreibt sehr viele Onlinediskussionen ziemlich gut.

Um ehrlich zu sein ist mir scheißegal, wer gewonnen hat. Als typisch misanthropischer Internetnerd fand ich alles scheiße. Am ehesten konnte ich mir noch den finnischen Beitrag anhören. Frau Wursts Lied erinnerte mich sehr an Skyfall von Adele, das ich auch schon scheiße fand. Dabei ist mir völlig egal, ob die Songs von einer Frau mit Bart gesungen wurden, von Franzosen die aussahen als wären sie frisch aus der Kinderfernsehsendung Lazy Town e̶̶n̶̶t̶̶k̶̶o̶̶m̶̶m̶̶e̶̶n̶ entsprungen oder von Polinnen, die offensichtlich aus so armen Verhältnissen stammen, dass sie ihre spärliche Bekleidung auch gleich noch auf der Bühne waschen mussten. Mir hat musikalisch nichts davon gefallen und trotzdem muss ich niemanden beleidigen oder davon überzeugen, dass meine Meinung die einzig richtige ist und trotzdem habe ich nichts gegen Frau Wurst, ihren Auftritt oder ihren Bart. Im Gegenteil, wenn ich mir den Flickenteppich ansehe, den viele Hipster im Gesicht mit sich rumtragen, ist Frau Wursts Bart sogar sehr schön, auch wenn ich selbst eher so ein 3-Tage-Faulheitsbarttyp bin. Aber ich schweife ab, kommen wir zur Moral dieses Blogposts.

Toleranz bedeutet nicht, alles und jeden gut zu finden, sondern alles und jeden mit Respekt zu behandeln, möglicherweise sogar

Achtung! Erhöhter Schwierigkeitsgrad!
obwohl man anderer Meinung ist.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzlichst, Ihr Rock Galore

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