Preiset den Durchschnitt

Manchmal lobe ich meine Kinder. Ich weiß, was Sie denken. "Ein Teufelskerl, dieser Herr Galore" und Sie haben selbstverständlich Recht. Ich lobe sie bei einer guten Note, einem guten Fußballspiel, wenn sie zuviel erhaltenes Wechselgeld von sich aus zurückgeben oder wenn sie anderen Kindern helfen, wenn sie gehänselt werden. Was? Das ist doch normal? Ja, das stimmt. Was meine Methode besonders macht ist, dass ich sie nur lobe, wenn sie es auch verdienen.

Ich verließ am Freitag das Büro und ging an einer Frau und ihrer Mutter vorbei, die vor einem Zwillingskinderwagen standen. Sie setzten die Kinder, schätzungsweise anderthalb Jahre, in den Wagen und Oma sagte "Super. Suuuper, macht ihr das." So weit, so normal, hätte sie nicht, ich war schon fast außer Hörweite, ein "Wie toll ihr dasitzt." hinterhergeschoben.

Okay. Die Gesellschaft degeneriert. Gehen wir also einen Moment davon aus, "Sitzen" wäre als olympische Disziplin in absehbarer Zeit durchaus denkbar und diese Zwillinge möglicherweise Meister ihres Fachs, deren frühkindliches Talent für diese mitreißende Sportart ich einfach nicht erkenne. Ja, das könnte sein. Und wenn ich mir meinen Chef vorstelle, wie er mir eröffnet, dass für einen Supersitzer wie mich bestimmt bald eine Gehaltserhöhung fällig wäre, sogar wünschenswert.

Im Sitzen bin ich nämlich eine Rakete. Und Sie sollten mich erstmal liegen sehen!
Oder es ist einfach albern. Ich meine, die Kinder sitzen! Nicht mal in diesem Alter ist das eine herausragende Leistung. Es war ja nicht mal ein Schneidersitz!

Es ist natürlich nur eine Anekdote, überspitzt kommentiert, aber es ist eben auch ein Indiz für die gesellschaftliche Tendenz dass der Durchschnitt, oder die Normalität, um einen weniger negativ belegten Begriff zu benutzen, nichts mehr wert zu sein scheint. Ich habe erlebt, wie Kinder nach der zweiten Klasse aus ihrem Umfeld gerissen, von ihren Freunden getrennt und auf andere Schulen geschickt wurden, weil die Eltern mit einem 2er-Schnitt nicht zufrieden waren. "Schuld" an diesem Schnitt war natürlich die Schule. Es gibt Eltern, die mit ihren Kindern die empfohlenen 30 Minuten Hausaufgabenzeit auf das 3-fache ausdehnen, damit "der Junge überhaupt was lernt". Täglich! Auf Elternabenden wird verkündet, die Aufgabe einer Grundschule sollte doch wohl sein, jeden Schüler aufs Gymnasium zu bringen und überhaupt, die Kinder seien ja nicht dort, um Spaß zu haben. Von verschiedenen Personen wohlgemerkt. Und das sind nur einige der Wortmeldungen.

Auf meine Frage, was das Abitur denn noch wert sei, wenn jeder eins bekäme, bekam ich selbstverständlich keine Antwort. Wen interessiert schon die Volkswirtschaft? Darum können sich doch nun wirklich andere kümmern. Solange mich mein 8-Jähriger nur morgens mit einem Kaffee am Bett weckt und mir auf altgriechisch mitteilt, dass er schon 2 Arbeitsblätter Trigonometrie bearbeitet hat. Außerdem soll er der Beste in seinem Fußballteam sein und Kampfsport macht er auch. Mittwochs, nach dem Training im olympischen Schwimmaufbaukurs. Damit ja keine Langeweile aufkommt, werden Ruhepausen mit der Wii überbrückt. Aber bitte leise, Mutti und Vati sind nämlich oft gestresst. Und Lächeln reicht als Ausdruck der Freude voll und ganz. Richtiges Lachen ist ja auch so laut. Das ist kein Elternstolz oder Fürsorge. Das ist die pure Leistungsgesellschaft, direkt und ungefiltert 1:1 von den burnoutgefährdeten Eltern an ihre Kinder durchgereicht. 

Ich habe hier, zu einem anderen Thema, schon mal gefragt, wann wir verlernt haben, was Kindheit bedeutet und stelle die Frage gern nochmal. Die Oma aus der, wahren, Geschichte oben würde mir wahrscheinlich Übertreibung vorwerfen, unzulässige Rückschlüsse aus einem harmlosen Lob und sie hätte vermutlich Recht. Meine Assoziationen sind überspitzt, aber die Tendenz ist meiner Meinung nach real. Aber vielleicht irre ich mich auch und die Zwillinge werden irgendwann, mit dem Sitznobelpreis fröhlich in eine Kamera winkend, meine Thesen Lügen strafen. Bis dahin versuche ich meinen Kindern zu vermitteln, dass man der oder die Beste sein kann, aber nicht muss, solange man sich Mühe gibt.

Herzlichst,
Ihr Rock Galore

Kommentare

  1. Toller Aufsatz! Ich sag eh immer: früher, da war die Welt noch in Ordnung. Aber es verschiebt sich halt einiges: die Deutschen werden weniger, das Deutsch wird schlechter, rechnen kann kaum noch einer, und wenn ich Abiturzeitungen drucke und mir den Inhalt durchlese, frage ich mich immer öfter, wie die jungen Leute das Abi überhaupt bestanden haben. Aber Gratulation zu dem 8-jährigen, der Altgriechisch kann! Er erhebt sich aus dem Durchschnitt. Hoffentlich hat er keine Sitzprobleme .Ansonsten alles Gute!

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