Kindheit, oder auch Noch-Nicht-Gestellte-ADHS-Diagnose

Ein Kind zu haben ist was Großes. Was ganz Großes, selbst wenn die meisten von denen eher klein sind. Man kauft plötzlich nicht für den Eigengebrauch gedachtes Essen. Der Kinder Probleme sind automatisch die eigenen, obwohl die zu Beginn nicht viel mehr tun als die gesamte Wohnfläche mit einer Speichelpatina zu überziehen und gleichzeitig überall hinzupinkeln. Man ficht Kämpfe aus, die nicht die Eigenen sind. Man erfährt zum ersten Mal, was es heißt bedingungslos zu lieben und geliebt zu werden. Und man bekommt einen ganz anderen Blick darauf, was in unserer Gesellschaft möglicherweise nicht ganz richtig läuft. Ein Erfahrungsbericht.



Kind1(8) ist, der pfiffige Leser ahnt es bereits, 8 und sein Leben war von Anfang an nicht unbedingt leicht, auch wenn ihn kein schlimmes Schicksal in dem Sinne traf. Nur unerheblich zu früh geboren kam er mit nur 1800 Gramm Geburtsgewicht auf die Welt, ziemlich genau 2,5 Mal leichter als ein in derselben Nacht geborenes Mädchen, und war dennoch voll entwickelt, nur eben klein. Er holte recht schnell auf, bewegte sich aber fortan körperlich immer am unteren Ende, aber immerhin innerhalb, der Skala. Er hatte bisher bereits 3 stationäre Krankenhausaufenthalte, 5, mal mehr, mal weniger große, Operationen unter Vollnarkose und auch sonst vielerlei Dinge, die man sich als Eltern nicht unbedingt für sein Kind wünscht, aber das soll jetzt hier nur der Bewertung der äußeren Umstände dienen und gar keine tiefere Rolle spielen.

Er war schon immer ein intelligentes Kind, so weit man das durch die elterliche Verblendung hindurch beurteilen kann und darf. Er brachte sich mit 5 Jahren mit einer Anlauttabelle selbst das Lesen bei. Wären wir damals klüger gewesen, hätten wir ihm mehr geholfen, aber wir hatten Angst, der Schule vorzugreifen und ihm damit den Schulstart zu versauen und so beschränkte sich unsere Hilfe darauf, ihm seine Fragen zu beantworten, aber nicht aktiv mit ihm zu üben.

Ein kleiner Rat an andere in ähnlichen Situationen: Holt die Kinder da ab, wo sie stehen. Wenn sie was lernen wollen, unterstützt sie. Immer. Niemand mit einer halbwegs begabten LehrerIn wird sich in der Grundschule langweilen.
Als er etwa 6 Monate später eingeschult wurde las er bereits jeden Tag und schrieb auch schon selbst kürzere Texte. Kleine Briefe an uns Eltern und solche Sachen. Doch im letzten Kindergartenjahr begannen dann auch die Schwierigkeiten. Er meisterte alle Schuleignungstests mit Bravour, aber es hieß, er habe Probleme mit der Aufmerksamkeit. Nichts schlimmes, aber man müsse das beobachten. Er hatte mit etwa 4½ Jahren Probleme mit dem linken Ohr bekommen, bekam also manche Sachen einfach nicht so gut mit, deshalb ließen wir das erstmal auf sich beruhen, schließlich wussten wir es ja besser.

Im ersten Schuljahr kam es, wie es kommen musste. Er sollte seitenweise Buchstaben nachmalen, die er schon schreiben konnte. Er sah, dass Worte wie "Katze", die er schon hunderte Male gelesen hatte, von seinen Freunden "Katse" geschrieben wurden und das für die Lehrerin okay war, was dazu führte, dass seine Orthographie zunächst sogar erstmal schlechter wurde als vor der Einschulung und dass er sich zudem langweilte und häufig den Unterricht störte. Ich habe keine Ahnung, von wem er das haben könnte, Sie brauchen sich gar nicht so zu räuspern. Schon in den ersten paar Wochen jedenfalls wurde er zwei Mal wegen Störens aus dem Klassenraum verwiesen und ich glaube es war 3 Wochen nach seiner Einschulung, als er zum ersten Mal äußerte, er wolle da nicht mehr hin.

Beim ersten Elternsprechtag hörten wir dann erstmalig den Begriff ADHS im Zusammenhang mit einem unserer Kinder. Wir argumentierten mit seinen Ohren und bekamen ein "Ja, ja, er hat was mit den Ohren" und die Anführungsstriche denken Sie sich bitte unbedingt ausgesprochen dazu. Wir argumentierten weiter damit, dass ja wohl die wenigsten ADHS-Kinder zu Hause täglich ganze Bücher ruhig und für sich lesen würden, ohne so genau zu wissen ob das stimmt, aber das Kind lag im Grunde sowieso schon im Brunnen. Genauer gesagt in einer Schublade, wahrscheinlich in einer die schon aus dem Kindergarten mitgebracht wurde.

Im Folgenden brachten wir ärztliche Atteste und ähnliches bei, um das nicht ernst genommene Ohrenleiden zu bestätigen, die aber offensichtlich ebenfalls nicht ernst genommen wurden.

Gegen Ende des ersten Schuljahres durften wir jedenfalls erfahren, dass das auf dem linken Ohr fast taube Kind in die letzte Reihe gesetzt wurde, seitlich, mit dem, Sie ahnen es, kranken Ohr zur Tafel. Man kann also davon ausgehen, dass Attest als Beleg nicht ernst genommen wurde.
Wir schickten ihn, auf Anraten besagter Lehrerin und um einen Schlußstrich zu ziehen, zu einer Logopädin, die feststellte, dass seine Konzentrationsfähigkeit völlig normal sei und dennoch, manche Schubladen haben leider die Angewohnheit sehr tief zu sein. Das erste Zeugnis kam, die fachlichen Benotungen waren durch die Bank sehr gut, die Kopfnoten, ebenso durch die Bank, grottenschlecht.

Seine Lehrerin nahm ein Sabbatjahr, was nichts mit Ozzy Osbourne zu tun hat, und ich kann gar nicht sagen wie erleichtert wir waren. Wir erfuhren darüber hinaus, dass die alte Klassenlehrerin sein Ohrenleiden weder dem restlichen Kollegium, noch der Rektorin, die von nun an Klassenlehrerin werden sollte, gegenüber jemals erwähnt hatte. Im zweiten Jahr blühte er auf. Schon zu Beginn des Schuljahres war spürbar eine Last von seiner Schulter genommen und er ging wieder gern zur Schule und schrieb hervorragende Noten. Er war inzwischen von normalen Büchern zu Kinderlexika übergegangen und las immer noch ungefähr eine Stunde am Tag.

Mitte des zweiten Halbjahres wurde dann sein Ohr operiert, Sie haben vielleicht in meinem Twitteraccount darüber gelesen. Die OP verlief gut, aber er fehlte mehrere Wochen in der Schule. Am Tag nach seiner Rückkehr wurde ein Mathetest geschrieben, den er trotz allem "außer Konkurrenz" mitschreiben sollte. Er machte einen Fehler, bekam eine 1 und wir merkten, dass sich Schubladen sehr schnell öffnen können, wenn andere sich schließen. Auf der neuen stand nun "Hochbegabung". Prinzipiell erstmal eine angenehmere, aber auch gefährlich, denn auch darin herrscht großer Druck, nur eben in eine andere Richtung. Er war etwa 2 Monate drin, wenn auch mit deutlich weniger Aufregung verbunden als die ADHS-Diskussionen im Jahr zuvor. Wir stimmten zu guter Letzt einem Test zu, der von einer Pädagogin durchgeführt wurde, die ihn für völlig normal hält. Auch hier ist aber vermutlich das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ich glaube nicht, dass ihm die neue Lehrerin nicht wohl gesonnen wäre, aber ein Hochbegabter an "ihrer Schule", das könnte ihr ganz bestimmt gefallen.

Was bleibt ist die Frage, wann unsere Gesellschaft verlernt hat was Kindheit bedeutet. Was das Kindsein ausmacht und dass es die Unterschiede sind, die uns einzigartig machen. Das Kinder toben und spielen und manchmal dabei laut sind und schmutzig. Das jeder Mensch in anderen Dingen begabt ist. Wann haben wir angefangen uns vor allem zu fürchten was nonkonform ist und allem abnormen den Stempel "Krankheit" oder "Wunder" aufzudrücken? Warum treiben uns nur noch Extreme an?

Ich möchte damit nicht sagen, dass ich nicht an das Krankheitsbild ADHS glaube. In keinster Weise. Aber ich glaube, dass diese Diagnose in vielen Fällen viel zu leichtfertig gestellt wird.
Warum schreibe ich das alles überhaupt? Nun, in erster Linie weil es manchmal gut tut, Dinge aufzuschreiben. Es hilft dabei, sie nicht zu vergessen und immer daran zu denken, dass es sich lohnt sein Gehirn einzuschalten und Dinge nicht einfach als gegeben hinzunehmen, bloß weil sie von Respektspersonen wie Lehrern oder auch Ärzten kommen. Wenn ich daran denke, dass es tausendfach Kinder in ähnlichen Situationen gibt, die von irgendwem als störend empfunden und dann mit Ritalin "behandelt" werden, um wieder auf Spur gebracht zu werden, dann finde ich das erschreckend und deshalb möchte ich Ihnen mit dieser kleinen Geschichte sagen: Haben Sie ein offenes Ohr für Ihr Kind, denn Sie kennen es besser als jeder andere.

Herzlichst,
Ihr Rock Galore, Vater eines ganz normalen, mit einer schnellen Auffassungsgabe gesegneten, sehr wissbegierigen Sohnes und einer nicht minder wundervollen und intelligenten Tochter

Kommentare

  1. Hallo,
    ich habe heute die Kommentarfunktion dahingehend geändert, dass man nun wieder ohne Google+-Konto Kommentare abgeben kann.

    Die bisher zu diesem Post abgegebenen Kommentare findet ihr hier:
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