Machen Sie sich frei!

Ich war vergangene Woche in Berlin. Und es dauerte keine Stunde, bis mir, noch am Flughafen, illegale Substanzen angeboten wurden. Oder Diebesgut, Hehlerware mindestens. Ich stand quasi mit meinem Rollkoffer mit einem Bein im Knast. Nicht mal 60 Minuten und der Moloch fraß das Landei bei lebendigem Leibe, um es durchzukauen und wieder auszuspucken... Das ist natürlich nicht die Wahrheit, sondern war nur meine Empfindung. Eine völlig normale Reaktion darauf, dass ein Fremder einem was schenken will. Vielleicht.


Wir standen an diesem Bahnschalter, den wahrscheinlich jeder kennt, der reich genug ist nach Berlin zu fliegen, aber zu arm für ein Taxi. Der, an dem man völlig überteuerte Bahntickets für mehrere Tage kauft, die es zu Hauf günstiger gäbe, befände man sich nicht gerade am Flughafen. Jedenfalls standen wir da, ich hielt das Smartphone nach der richtigen Verbindung zum Hotel suchend in der Hand, als wir von einer jungen Frau angesprochen wurden. Sie hatte Dreadlocks, trug einen bunten Rock und eine Flasche Bier und erzählte uns etwas davon, dass sie und ihr Freund bald nach Haus flögen und uns ihr letztes Tagesticket überlassen wollten.

Unsere erste Reaktion war Misstrauen. Wir sahen einander an, als könnte in diesem Ticket möglicherweise eine Bombe versteckt sein. Nähme sie jemand an, würden sich die Augen der jungen Frau vermutlich, ach was, ganz sicher(!), blutrot färben, ein Zünder würde piepsen und wir würden unter ihrem diabolischen Gelächter den halben Flughafen in Schutt und Asche legen. Und das, obwohl der neue noch gar nicht fertig ist!

Aber ernsthaft. Ist das nicht schrecklich? Da will dir jemand was schenken und das Erste was dir durch den Kopf geht ist, wie dir diese kleine Frau wohl mit diesem Ticket Schaden zufügen könne, obwohl doch klar sein sollte, dass am Ende der Überlegung höchstens ein böser Papierschnitt stehen könnte. Wir nahmen also das Ticket und sprachen später über diese skurrile Situation. Wir waren uns unsicher, ob es nun an uns läge oder nicht, also nahmen wir uns vor, an unserem letzten Tag unsere beiden letzten Tickets ebenfalls zu verschenken. Eine Art Feldtest, um herauszufinden, ob wir nur total spießige Eltern auf Freigang geworden sind oder ob Misstrauen vielleicht doch eine wenigstens in Teilen normale Reaktion ist.

Drei viel zu kurze Tage später war es dann so weit und wir standen wieder am Flughafen. Wieder am gleichen Bahnschalter und hielten Ausschau nach einem jungen Pärchen, das danach aussehen sollte, als könnte es zwei kostenlose Tickets auch gebrauchen und tatsächlich war das nicht so einfach, wie man glauben könnte. Wir mussten zwar nicht viele ansprechen, aber es gehörte tatsächlich Überzeugungsarbeit dazu, unsere Fahrkarten loszuwerden. Ich glaube, wir haben uns unbewusst auch für Paare entschieden, die nach uns vor ein paar Jahren aussahen, allein schon, um wenigstens die Spießerthese zu entkräften. Das hat geklappt, denn auch Paare, die dem etwas jüngeren Ich meiner Frau und meinem sehr, sehr viel jüngeren Ich ähnlich waren, lehnten zunächst reflexartig ab.

Was aber bleibt, ist der bittere Nachgeschmack. Ich finde es traurig, wie schwierig es in unserer Gesellschaft scheinbar ist, jemand Fremdem etwas zu schenken, also möchte ich Ihnen zurufen: Machen Sie sich frei! Nein, nicht nackt, sondern frei. Frei von Vorurteilen, denn die haben Sie, auch wenn Sie glauben, dass dem nicht so wäre.

Sollten Sie sich beim Lesen dieses Beitrags doch nackt besser fühlen, lassen Sie mich bitte per Foto teilhaben. Sie finden meine Mail-Adresse rechts und dann ein bisschen oben unter dem Link "Schreiben Sie mir".
Gehen Sie auf Menschen zu. Mit einem Lächeln und offenen Armen, aber halten Sie bitte ihr Portemonnaie dabei fest, man weiß ja nie. Und wenn Sie mir nicht glauben, probieren Sie es mal aus. Mit einem Tagesticket an einem Flughafen. Irgendwo.

Herzlichst,
Ihr Rock Galore

Kommentare

  1. Lieber Rock,

    ich mache das seit Jahren so, dass ich Tagestickets nach dem Gebrauch einfach weiterverschenke, wenn der Tag noch ein paar Stunden hat. Egal an wen übrigens. Ich bin es schon an kichernde Teenies losgeworden, an Obdachlose, an Typen im Dreiteiler, an krumme Omis, am Mütter mit Kindern, an Bauarbeiter. Misstrauen ist mir dabei kaum begegnet, höchstens ein ungläubiges "Echt jetzt? Einfach so?". Sicher zehnmal wollten mir Menschen Geld geben, um sich am Restwert des Tickets noch zu beteiligen - was ich aselbstverständlich ablehne. Mehrmals schaffte es ein hektisch am Fahrkartenautomat herumfmmelnder Mensch nur wegen meines Tickets noch rechtzeitig in die einfahrende Bahn.

    Natürlich gehe ich zuerst auf Leute zu, die aussehen, als könnten sie ein kleines Geschenk am dringendsten gebrauchen. Sind nur wenige da oder lehnt jemand ab (weil er etwa bereits ein Ticket hat), wende ich mich aber durchaus auch an besagte Businesstypen oder Gucci-Ladies. Ja, wirklich. Warum auch nicht? Besser als Wegwerfen, right?

    Mich freut das. Ein bisschen Freundlichkeit und Selbstverständlichkeit weiterzutragen. Kostet mich nix und bedeutet jemand anderem vielleicht ganz viel - und das nicht mal monetär gesehen.

    Und übrigens ist mir klar, dass auf den Tagestickets hinten drauf steht, dass es "nicht übertragbar" ist, nicht weitergegeben werden darf und blahblupp. Ist mir piepegal. Der MVV ist derart unverschämt teuer, da sollen die mir mal vorschreiben, wie ausgiebig ein Ticket befahren werden darf! Der Tag hat 24 Stunden, das Ticket ist bezahlt, BÄM.

    Danke für diesen Post. Mögen ihn maximal viele Leser zum Anlass nehmen, auch mal über ihren eigenen Tellerrand zu linsen!

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    1. Werte Textzicke,
      ich fahre nicht viel Bahn, man möge mir die mangelnde Erfahrung also verzeihen, aber tatsächlich sind wir die Tickets nachher getrennt losgeworden und die Frau hatte es gefühlt leichter als ich, es könnte also durchaus an mir gelegen haben. Letztlich bewertet man eine Situation mit einem/einer Fremden ja aus den unterschiedlichsten Gründen positiv oder negativ. Aber es war tatsächlich so, dass es Leute gab, die eher nach Ausreden gesucht haben warum sie das Ticket nicht nehmen sollten, als es einfach zu nehmen. "Bis 3 Uhr? Nee, das reicht mir nicht." "3 Uhr nachts!" "Ach so. Ja, nee, lass mal." So halt.

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